Die Seele schwingt mit
Sibylle Ehrismann ist im Zürcher Oberland aufgewachsen. Musikalisch sensibilisiert durch ihren Vater, den Pianisten Alfred Ehrismann (Konservatorium Winterthur), schreibt sie als freie Musikpublizistin für Tageszeitungen und Fachzeitschriften.
Sibylle Ehrismann: Ein Plädoyer für das akustische Klavier
Die Elektronik hat auch vor dem Klavier nicht Halt gemacht. Obwohl für dieses klangvolle und wohl verbreitetste harmonische Instrument Klavierauszüge von ganzen Symphonieorchestern geschrieben wurden und die subtile Differenzierung des Anschlags aus einem Flügel eine farbenreiche Klangwelt herauszulocken vermag, haben elektronische Klaviere schnell den Markt überschwemmt. Was nur ist der Beweggrund dafür, statt einem herkömmlichen sogenannt „akustischen“ Klavier ein elektronisches Digital-Piano zu kaufen?
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, als mir einmal eine Klavierschülerin im Unterricht, in welchem sie mir eben nach dem Gehör einen Hitparade-Song lupenrein und harmonisch richtig nachgespielt hatte, den Wunsch äusserte, lieber auf einer elektronischen Orgel spielen zu dürfen. Zugegeben, ich bin ein typischer Klangmensch und pflege in meinem Spiel den differenzierten Anschlag, aber auch das Kind hatte seine Gründe. Auf einer elektronischen Orgel könne man einfach Knöpfe drücken, und dann töne es wie eine ganze Band. Nun gut. Die Eltern kauften ein elektronisches Instrument, freuten sich darüber, wie das Mädchen freiwillig ans „Klavier“ sass und drauflos spielte. Der volle Band-Klang faszinierte auch die Eltern – es klang wie „richtig“ -, doch Fortschritte machte das Kind kaum mehr, war schnell zufrieden mit der „eigenen Band“ und liess es schliesslich ganz bleiben.
Es motiviert ein Kind natürlich, wenn ein Stück „gut“ klingt. Was aber im Unterricht durch das gemeinsame, oft vierhändige Spiel erreicht wird, hat mit der Täuschung der Elektronik wenig zu tun. Gerade in der Ausbildung ist das Vorgaukeln des Besserseins, als man ist, eine grosse Gefahr und befriedigt nur kurzfristig, weil man sich mit der eigenen Leistung schnell zufrieden gibt.
Auch die Werbung für die neuen Digital-Pianos gaukelt gern etwas vor. Schenkt man ihr Glauben, so steht ein elektronisches Klavier weder im Klang noch im Anschlag seinem mechanischen Vorbild nach. Die deutsche „Stiftung Warentest“ wollte das genau wissen und nahm die elektronischen Klaviere unter die Lupe. 55 Berufspianisten verglichen die Spieleigenschaften von zwölf Elektroklavieren mit zwei mechanischen und mussten nach dreizehn Kriterien beurteilen. So fragte die Stiftung zum Beispiel nach der Klangqualität: Ist das Klangspektrum vielfältig? Wie gut ist der Raumklang? Ist der Ton flach oder voll? Oder nach der Dynamik: Lässt sich die Lautstärke vom Pianissimo bis zum Fortissimo gut nuancieren? usw.
Die Kommentare der Musiker zu diesen Punkten sind deutlich: Dem Klang fehlt es an Homogenität, die Klaviatur (Tasten) ist so sensibel, dass beim Pianissimo das Spiel ausser Kontrolle gerät. Die Dynamik bleibt problematisch, weil es an Lautstärke mangelt und weil das Fortissimo verzerrt wird. Da das Mitschwingen der Saiten fehlt, „hat man oft den Eindruck, einen toten Klang zu hören“, meint die Jury.
Natürlich haben die D-Pianos vordergründig auch ihre Vorteile. Man kann sie mit Kopfhörer spielen und stört so keine Nachbarn. Sie sind deutlich preisgünstiger und kleiner als die akustischen Instrumente, sind leichter zu transportieren und müssen nicht gestimmt werden. Was so zum Beispiel einem Zweitklavier in einem Ferienhaus zum Vorteil gereicht, kann die Vorteile eines herkömmlichen Klaviers niemals wettmachen. Gerade in der Musik, wo es neben der technischen Fertigkeit vor allem um Empfindung und die eigene Ausdrucksfähigkeit geht, steht das „direkte Greifgefühl und der echte, direkte Klavierklang“ an erster Stelle. Bei Tönen, die nicht schwingen, schwingt auch die Seele nicht mit. Darüber hinaus ist das akustische Klavier auch als Investition interessanter. Wer aber noch unsicher ist und nicht investieren will oder kann, für den bieten heute die Fachgeschäfte verschiedene Leasing- oder Miet/Kauf-Möglichkeiten an, die ein „echtes“ Klavier mit all seinen Schwingungen und seinem „natürlichen“ Volumen für alle Interessierten erschwinglich macht.